ND  13.11.17
Diesseits des Ganges
 
Mit „Siddharta Highway“ gelang Misha G. Schoeneberg ein subversiv-sozialkritischer Pilgerroman
 
„Es ist morgens um acht und die Welt nicht in Ordnung.“ Schon ein paar Meter Indien zu Fuß, etwa vom Flughafen zu einem Traveller-Hotel können genügen, um einen Mitteleuropäer tiefgehend zu erschüttern. Was aber passiert, wenn die Laufstrecke 1500 Kilometer betragen und in hartem Marschtempo durch die ärmsten Regionen des Subkontinentes führen soll?
 
Der Berliner Autor Misha G. Schoeneberg hatte nach einer Krankheit die Einladung angenommen, an einem buddhistischen Pilgermarsch durch Nordindien und Nepal teilzunehmen. Im Rückblick machte er aus dieser Erfahrung ein mitreißendes Buch. Gemeinsam mit 220 thailändischen Mönchen absolvierte der Südostasienwissenschaftler einen strapazenreichen Parcours voller Widersprüche und Gefahren. In Indien stellen Buddhisten eine verschwindend kleine Minderheit von nicht mal einem Prozent. Der Weg zu ihren zentralen Heiligtümern verläuft durch Gebiete mit hohem muslimischen Bevölkerungsanteil, so dass die Mönche aus Angst vor Anschlägen über hunderte von Kilometern auf einer Autobahn wandern. Geführt von einem unbarmherzigen Abt legen sie Tagesstrecken von bis zu 55 Kilometern zurück. Dieser Herausforderung begegnet der Autor mit Humor, Sensibilität und Durchhaltewillen.
 
Auf den Pfaden des historischen Buddha erfahren die Pilgerer Unbegreifliches und Wunderbares neben nicht hinnehmbaren sozialen Gräben, Verwüstung und himmelschreiendem Elend. Im Gegensatz zu seinen Mitreisenden widmet sich Schoeneberg nicht nur seinem inneren Seelenheil, sondern schaut genau hin, wenn Menschen in Müllwüsten, Kloake oder umweltverseuchten Staubstädten ein Schattendasein fristen müssen. Er registriert die allgegenwärtige Traurigkeit, aber auch die offenen Blicke am Wegrand, redet mit Studenten oder bewaffneten Aufständischen, flirtet mit Schönheiten, sprüht Graffiti gegen Autolärm, legt sich aber auch direkt mit dem immer gnadenloser erscheinenden religiösen Führer der Expedition an. Als Buddhist und Poet liefert sich Schoeneberg unterwegs dialektische Dispute mit seinem Lieblingsgott Krishna. Und angekommen am wichtigsten Pilgerziel, der Tempelstadt Bodhgaya, übersetzt er als einziger europäischer Teilnehmer seinen frommen mönchischen Begleitern die revolutionären Worte des Buddha in ihre eigene Sprache.
 
Der besondere Reiz des Textes liegt neben seiner Spannung auch darin, dass sein Autor permanent Brücken schlägt zwischen Religion und politischer Ökonomie, zwischen Kulturgeschichte und Gegenwart, zwischen kritischer Aufgeklärtheit und hingebungsvoller Suche nach dem großen Ganzen. Und scheinbar beiläufig erfahren die Leser einmal mehr die ergreifende Geschichte des rebellischen Brahmanensohnes Siddharta, der zum Buddha, dem Erwachten wurde und eine neue Lehre der Achtsamkeit und des Mitgefühls im Hier und Jetzt, eine Lehre der Gleichheit und der Freiheit predigte. 
 
Jörg Wunderlich