Aus Kapitel 6:   Vier Uhr früh: Wir brechen auf 


Hier ist Kalkutta, die Dunstschleier der Nacht sind etwas erträg­licher als die des Tages, doch es gibt keine Gnade der Dunkel­heit. Im Flackern der Straßenlampen zeigt sich das Elend noch klarer. Und überall lodern große und kleine Feuer auf, wie funkelnde Sterne am fernen Himmel, nur, Kalkuttas Sterne rie­chen nach verbranntem Müll. Da liegen schlafende Kinder mit etwas Pappkarton bedeckt. Ratten laufen über sie hinweg. Dreck, Dreck, Dreck! Eine alte Frau hockt in Agonie. Schläft sie oder wacht sie? Sie wird es selbst nicht wis-sen. Die schlafenden Schweine wohl auch nicht. Hunde streunen, Hunde kläffen. Kühe hocken da und gaffen. Ein hagerer Mann, fast nackt, nur ein Tuch gebunden um die Lenden, zerrt aus dem Müll eine stark versiffte Plane, spuckt Blut und deckt sich schicksalsergeben zu.

 

Ach, all die Bilder der letzen Tage. Weiter, weiter! Und wenn man denkt, das sei doch alles nicht zu toppen, dann kommt man an den Fluss, der Hugli heißt und der durch Kalkutta fließt, ein Seitenarm des Ganges. Über ihn ist eine eiserne Brücke gespannt, die Viveka-nanda-Brücke, eine imposante Stahlkonstruktion aus den 30er-Jahren. Sie ist über 800 Meter lang und etwas bau­fällig, deshalb hat man neben sie eine Spannbrücke für den Lkw-Verkehr gebaut, hier beginnt der Kalkutta-Delhi-National-High­way AH1, die meist-befahrene Verkehrsader Indiens. Doch über die alte Brücke fährt der Zugverkehr und ein Fußgängerweg führt neben den Gleisen entlang. Da laufen wir.

 

Eine Dampflok – oh, wie schön, Dampfloks gibt es noch, jeden­falls in Indien! – mit ungezählten Kohlewaggons schiebt sich unter das Stahlgerüst. Die Brücke kommt bedenklich ins Schwingen, gleichzeitig erscheint ein roter Feuerball über der Stadt: Die Morgensonne schimmert durch den Dunst und spiegelt ihr mattes Licht im Fluss. Wir halten inne.

 

„Ah, schau, da unten rechts, direkt am Ufer, das ist der Dakshineshwar-Tempel, er ist einer der größten der Stadt und er ist Kali gewidmet.“ Champ hat das grade von einem Mönch er­fahren.

 

‚Wem sonst, wenn nicht Kali‘, denke ich und murmel still: ‚Lass die Brücke einstürzen oder lass sie bebend bestehen, wie auch immer: Es ist ein erhabener Moment!‘ Ich atme schwer, während ich hinunter zum Fluss und zum Ufer schaue.

 

Wenn nur der Gestank nicht wäre. Er kommt mit dem Dampf der Lok und von der Kohle der Waggons, und er kommt aus dem Fluss. Doch noch etwas anderes, noch etwas viel Übleres als diese Fäule des Flusses, kriecht wie eine Nebelwolke über die Wasser des Hugli. Es kommt von der anderen Seite des Ufers. Wir werden es sehen, wir gehen direkt auf sie zu, auf die Quelle die­ses elendig beißenden Gestanks.

 

Was ich sehe, als wir die Brücke verlassen, ist die Ausfallstraße Kalkuttas, der National-Highway: Er schiebt sich in einer lang­ge­zogenen Kurve einen Hügel hoch. Auf ihm, an seiner linken Seite in Fahrtrichtung, schlängelt sich eine lange orange Schlange. Das sind wir. Wir, die Mönche und ihre Begleiter. Das Bild sieht faszinierend aus. Drei Stunden ohne Pause sind wir unterwegs. Die ersten Mönche in der Schlange sind nicht mehr zu sehen, die Gruppe läuft weit ausein­an­der. Ein schein­bar endloslanges, stetig voranmarschierendes Orange. Der frühe Morgen durch Kalkutta ließ die Sehn­sucht nach einer Pause nicht aufkommen. Jetzt liegt uns die Stadt im Rücken, doch immer noch im Magen. Und der kleine Hügel geht plötzlich mächtig in die Beine, ich schaue mich Hilfe suchend nach Champ um.

 

„Meinst du, wir könnten uns mal kurz hinsetzen?“

 

„Meinst du hier?“ Champ zielt mit seinem Finger erst auf die Autobahnleitplanke, dann hebt er den Arm langsam und zeigt in das Tal dahinter.

 

Und dann sehe ich es, es liegt im Nebel des Gegenlichts der auf­gehenden Sonne. Da ist es also, wir haben es entdeckt, das Tal! Die Quelle des üblen Gestanks, der uns schon seit der Brücke, obwohl wir alle einen Mundschutz tragen, die Lungen verätzt: Das Mülltal, die Müllfelder, die Müllberge, die Müllebenen, die Mülllandschaft, die Müllmenschen, das Müllleben von Bally bei Kalkutta.

 

Wir bilden das Ende der Mönchsschlange, die Nachhut. Wir sol­len darauf achten, dass niemand zurückbleibt. Die Mönche sind weit voraus, einfach daran vorbeigelaufen. Ich weiß es nicht, wie sie das gemacht haben: Einfach weiter im Laufschritt und dran vorbei, bloß nicht hinschauen! Was wir nicht sehen, das gibt es nicht. Alles nur Illusion. Vielleicht ist es wirklich so. Vielleicht dürfen Mönche das: nach innen schauen und sich bescheiden. Ich darf das nicht. Ich schaue mich um. ‚Einfach wegsehen!‘ – diese Losung ist keine Lösung. Mag die Idee einem kalten, einem spirituellen oder bloß einem cleveren Herzen entsprungen sein, mir erschließt sie sich nicht. Habe ich recht? Nein! Niemand hat im Angesicht dieses Elends irgendein Recht. Wir alle haben unrecht!

 

Ich stoppe, ich halte an, die Lust am Rasten ist mir vergangen, ich bin wieder knallwach, doch bleich. Ich hole meine Kamera aus dem Rucksack Ja, ich mache Fotos. Das Klicken ist wie das Rat­tern eines MGs, ich halte einfach drauf. Armutsporno? Nein, Belege! Auch für mich selbst, damit ich mich daran erinnere: Das hast du gesehen. Du kannst es nicht leugnen, da sind die Fotos, sie sind der Beweis!

 

Ich versuche nicht einmal, das, was sich mir da bietet, nun irgend­wie ästhetisch einzufangen, das fände ich obszön. Doch es ist egal, alles ist obszön, denn der Anblick ist es, wirklich und wahrhaft obszön.

 

Müll von den Ufern des Flusses bis zu den Füßen der Hügel. Müll bis zum Horizont, Müll in der weiten Ebene, darin verloren: Menschen. Menschen am Morgen im Müll. Menschen im Müll in der Landschaft, die Landschaft ist Müll. Oh, Caspar David Friedrich, steh auf und male das! Da ist keine Hoffnung, das ist das Prinzip Elend.

 

Und es ist Elend, es anzuschauen und zuzuschauen. Ganze Fami­lienverbände – Oma, Opa, Vater, Mutter, Kind – leben dort, dort auf den Müllbergen, mit den Ratten dazwischen und den Schlangen und den Schweinen, die sie wohl halten. Und Adler und Pelikane kreisen in der Luft, wenn wir dieses neblige Abgas­gemisch aus giftigem Rauch der tausend Feuer, die als Schwel­brand aus dem Müll aufsteigen, mal so nennen wollen. Oh, par­don, es ist schwierig, die Vögel aus der Entfernung auseinan­derzuhalten, ich konnte sie nie gut unterscheiden, es sind weder Adler noch Pelikane, eher Krähen und eine Geierbande – viele Geier, groß wie Pelikane, in aggressiven Flug-verbänden. Wegzuschauen bleibt genauso obszön wie stehen zu bleiben. Ich bleibe stehen, weil mir die Schritte versagen. Was soll ich tun? Soll ich auf das Feld gehen? Und dann? ‚Hallo!‘ sagen, ‚Liebe Müllleute, wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzu­teilen, dass …‘,  ja was denn? Es gibt nichts, was wir ihnen mitzu­teilen hätten.

 

Oder soll ich hinuntergehen und einigen auf die Schulter klop­fen, mit einem aufmunternden: ‚Wird schon! Wird schon!‘? Oder ich könnte die ewig tadelnde Mutter spielen: ‚Selbst schuld! Selbst schuld!‘ Oder gleich aufs Ganze gehen, und den bösen Priester der Finsternis geben: ‚Eure Götter haben recht. Das hier ist euer Platz, hier gehört ihr hin! Ihr seid die Letzen, die Paria, die Ausge­stoßenen, die Unberührbaren. Das habt ihr nun von euren schlech­ten Taten in all den früheren Leben!‘

 

Ich komme ins blöde Grienen. Möglicherweise würde es diesem armen Bengel, elf, zwölf Jahre alt vielleicht, in abge­wetzter, völlig eingedreckter, ehemals gelber, kurzer Hose, der da grade etwas aus dem Müll zieht, eine gewisse Freude bereiten, wenn ich ihm sagte, dass er im früheren Leben ein Maharadscha war.

 

‚Ein Maharadscha? Ich?‘

 

‚Ja! Du! Du warst im früheren Leben ein Maharadscha, tja, nur leider ein sehr grausamer, ein ungerechter Tyrann, der nun zur Strafe hier auf der Müllhalde leben muss, in deiner Inkarnation. Vorher war er Wurm, Ratte, Schwein. Du bist sein vierter Avatar!‘

 

Vielleicht würde er lachen. Vielleicht würde er zur Mutter lau­fen und laut rufen: ‚Mutter! Mutter, weißt du, was dieser Marsmensch mir grade mitteilte? Er sagt, er wüsste, wer ich früher war! Ein Maharadscha, ein grausamer!‘

 

„Was ist mit dir, musst du kotzen?“ Champ stößt mich an. „Du siehst ja elend aus.“

 

„Champ, was sollen wir tun?“, stammel ich, froh, dass er mit mir zusammen einige Schritte hierher herunterlief.

 

Es dampft, es riecht, es quatscht, es matscht, wir stehen auf kei­nem festen Grund. Trotzdem sind wir immer noch viel zu weit weg, um mit irgendjemandem zu reden. Das Gelände ist riesig, ein großes Tal unendlicher Hölle.

 

„Meinst du, wir sollten noch näher ran, weiter hineingehen, um ihnen klar zu sagen, dass wir sie wahrgenommen haben und von ihnen erzählen werden?“ Ich schaue zu Champ, er schaut in die Hölle. „Champ, meinst du, dass wir irgendetwas sagen kön­nen, was einen Funken Hoffnung birgt und ihnen irgendwie et­was Mut macht?“

 

Champ sagt gar nichts. Champ winkt einem kleinen Jungen zu, der sich den Fetzen Hose runtergezogen hat und in die Morgen­sonne Dünnschiss scheißt. Der Junge winkt zurück und lächelt.

 

„Oh, mein Gott!“, fährt es unwillkürlich aus meinem Mund, „die­ses Lächeln …“

 

Ach, Shiva, Boom Shanka Shiva, es ist ja dein Spiel. Und grad noch dachte ich, im Angesicht dieses Irrsinns auch endlich das Brüllen Kalis, deiner Gegenspielerin, zu verstehen. Kali ist nicht böse. Die Verhältnisse sind es. Sie ist ihr Spiegelbild und ihr Schrei geht so: ‚Ich bin es leid, so leid, dieses Leid!‘ Kali ist die Göttin der im Elend Leidenden, sie bietet ihnen Befreiung an: Durch Akzeptanz des Grauens gibt es Erlösung, und das sogar vom Kreislauf der Wieder­geburten. Kommt und geht auf in Kalis Schrei und mit ihm im Nichts des ewigen Hintergrundrauschens des Universums! – Doch nun das: dieses Lächeln des Knaben. Kali lächelt nicht. Es muss etwas ande­res sein. 

 

Es macht mich hilflos. Hilflos lasse ich die Hilflosen zurück. Helpless, helpless, helpless, Baby can you hear me now? Vollkom­mene Hilflosigkeit, ich habe sie gesehen, und wenn ich das Lied je singen muss, werde ich an das Lächeln des Knaben denken, es wird ein Zaubertrank voll Süße sein. Lieblich wie das Lächeln eines indischen Gottes von morgen. Caspar, male das, du hattest doch recht!